29.1.2001 FAZ

Viren von anderen Planeten

Mit einem außerordentlich lehrreichen Programm hat der Hessische Rundfunk gestern seine "Lunchkonzert"-Gäste im Sendesaal des Funkhauses überrascht. Thema der Matinee war wieder einmal die Beziehung zwischen Johannes Brahms und Arnold Schönberg. Letzterer hat sich über seinen Kollegen mehrfach öffentlich geäußert und ihn dabei in gänzlich anderem Licht gesehen als die musikalische Öffentlichkeit seiner Zeit, die Brahms gern die Rolle eines konservativen Traditionsbewahrers zusprach und ihn damit zu einem dezidierten Antipoden des "Neudeutschen" Richard Wagner machen wollte. Schönberg hingegen bekannte stets, von Brahms einiges gelernt zu haben, und erkannte namentlich dessen musikalische Technik der "entwickelnden Variation" neben weiteren Merkmalen als Tendenz des Fortschritts. Die nach innen gekehrte Expressivität der - formal immer knapperen - späten Brahms-Klavierstücke mögen Schönberg als Vorbild gedient haben.

Das Konzert im Frankfurter Sendesaal ermöglichte in dieser Hinsicht mancherlei Vergleiche. Der Wiener Pianist Stefan Vladar spielte nicht nur die sieben Fantasien op. 116 von Brahms, sondern stellte diese Miniaturen auch den Sechs kleinen Klavierstücken op. 19 von Schönberg gegenüber. Beide Werke interpretierte er mit großer Klarheit und starken dynamischen Kontrasten, wobei er die Capricci ausdrucksstärker beleuchtete als Schönbergs Klang-Kapriziosen.

Vladars Mitstreiter waren an diesem Morgen das Artis-Quartett Wien und die rumänische Sopranistin Ildiko Raimondi. Mit den Streichern realisierte er eine zugespitzt virtuose, klanglich die Grenzen zur Quasi- Sinfonik ausreizende Wiedergabe des Quintetts für Klavier und Streichquartett f-Moll op. 34a von Brahms, für die die Künstler wahre Beifallsstürme ernteten. Die von Schönberg so bewunderte Technik, innerhalb eines einzigen Satzes eine Fülle musikalischer Gestalten zu entwickeln, ließ sich bei diesem Brahms-Werk besonders gut nachvollziehen. Musikalisches Neuland betraten Ildiko Raimondi und das Artis-Quartett schließlich mit Arnold Schönbergs Streichquartett Nr. 2 fis-Moll op. 10: Für zwei George-Gedichte tritt hier eine Singstimme zu der klassischen Besetzung. Alle Mitwirkenden boten auch hier eine exzeptionelle Leistung, bei der die musikalischen Gestalten der noch vergleichwseise konventionell organisierten Musik in einer expressionistisch anmutenden Intensitätssteigerung zur Geltung kamen.

Von der "Luft von anderem Planeten" - Motto der Matinee und auch des anschließenden Buffets voller Köstlichkeiten - singt die Sopranistin zu Beginn des letzten Satzes, in dem Georges Gedicht "Entrückung" (aus "Der siebente Ring") vertont wird. Diese extraterrestische Strömung muß sehr virushaltig gewesen sein. Ungewöhnlich störungsfreudig benahm sich jedenfalls das Publikum ausgerechnet bei den folgenden, sehr empfindsamen Klavierstücken Schönbergs: Da fielen wiederholt Taschen, Programmhefte und andere Gerätschaften krachend zu Boden und piepsten Armbanduhren, vom ungehemmten Bellen der Dauerhuster und von notorischen Konzertsaal-Schwätzern einmal abgesehen. Die auf dem Podium versammelten, mit den Frankfurter Verhältnissen offenbar wenig vertrauten Künstler quittierten dies mit ungläubigem Kopfschütteln. Man darf gespannt sein, auf welche Weise der Hessische Rundfunk die Sendefähigkeit dieses Tondokuments garantiert.

HARALD BUDWEG.
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